Übertherapie auf der Intensivstation: Was bedeutet das?

Unter Übertherapie oder besser Überversorgung werden sowohl diagnostische als auch therapeutische medizinische Maßnahmen bezeichnet, die bei Patient*innen ergriffen werden, obwohl diese nicht angemessen sind, da sie nicht helfen die Krankheit bzw. Lebensqualität der Patient*innen zu verbessern, jedoch möglicherweise mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von den Patient*innen nicht gewollt werden.

Daraus können hohe Belastungen für die Patient*innen, deren Familien, die Behandlungsteams und die Gesellschaft resultieren. Diese Überversorgung kann sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich auftreten. Am häufigsten wird eine Überversorgung  am Lebensende auf der Intensivstation beobachtet, sie findet aber auch in der Langzeittherapie in der Geriatrie statt.

Grundsätzlich müssen für jede medizinische (Be-)Handlung eine Indikation und eine rechtswirksame Einwilligung durch die Patient*innen oder ihren Stellvertreter*innen vorliegen. Die Behandlungsteams müssen – auch wiederholt – die jeweilige Prognose bewerten und abwägen, welche der häufig komplexen Behandlungsmaßnahmen medizinisch sinnvoll sind. Diese Maßnahmen sollen sich an der individuellen Situation der Patient*innen unter Berücksichtigung ihres Willens und ihrer Wertvorstellungen orientieren und angewandt werden.

Es stellt somit eine große Herausforderung und Verantwortung dar, den jeweils angemessenen Behandlungsumfang zu bestimmen und damit eine Überversorgung zu vermeiden. Sehr häufig sind es Unsicherheiten in der Diagnose und vor allem Prognose, die zu einer Überversorgung führen. Hier spielt die Erfahrung der jeweiligen Behandler*innen eine große Rolle. Weiter ist die Sorge vor juristischen, d. h. haftungs- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen seit langem als bedeutsamer Faktor für Überdiagnostik und Überversorgung bekannt.

Um nicht wegen unterlassener Hilfeleistung oder eines Behandlungsfehlers belangt zu werden, scheuen weniger erfahrene Behandler*innen vor einer Verantwortungsübernahme für therapiebegrenzende Entscheidungen zurück. Manchmal fordern bzw. erwarten Patient*innen und/ oder deren Angehörige umfangreiche Behandlungsmaßnahmen, auch wenn sie nicht notwendig sind. Informationen aus unsicheren Quellen (Internet, Boulevardpresse) führen zu falschen Erwartungshaltungen. Ein mangelhaftes ethisches Klima in der Behandlungseinheit begünstigt ebenfalls eine Überversorgung, ein gutes ethisches Klima hingegen begünstigt einen berufsgruppen- und fachübergreifenden Diskurs und einen individuell angemessenen Behandlungsumfang.

Die Folgen einer Überversorgung können beträchtlich sein. Es können Nebenwirkungen durch die nicht notwendigen Maßnahmen auftreten, die nicht nur bei den Betroffenen selbst zu Schaden führen, sondern aber auch ganz allgemein, wie z.B. eine Resistenzentwicklung bei nicht indizierten Antibiotikagaben Probleme bereiten können.

Eine übermäßige Behandlung kann Angst und Unzufriedenheit vor allem bei Pflegefachpersonen aber auch bei den Ärzt*innen verursachen bzw. verstärken. Dies führt nicht selten in der Folge zu einer erhöhten Personalfluktuation. Es entstehen dadurch in der Regel auch erhöhte Kosten für das Gesundheitssystem. Die Sorge vor rechtlichen Konsequenzen – Schadensersatzhaftung oder gar strafrechtliche Ermittlungen – hat in der Ärzteschaft bislang jedoch weithin nur einen eindimensionalen Inhalt, nämlich im Sinne des befürchteten Vorwurfs eines „Zuwenig“. Dass auch ein „Zuviel“ rechtliche Sanktionierungen nach sich ziehen kann, wird dagegen meistenteils nur gesehen, soweit sich damit eine Missachtung des „Patient:innen-Willens“ verbindet. Auch die patient*innen-seitige Forderung nach einer lebenserhaltenden Therapieverlängerung ist grundsätzlich legitimer Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts; jedoch steht diese stets unter dem Vorbehalt der bestehenden Gesetze. Für eine Einwilligung – sei es durch Stellvertreter*innen oder durch die Patient*innen selbst – besteht von vornherein kein Raum, wenn ein ärztliches Therapieangebot auf Basis des bestmöglichen ärztlich-medizinischen Wissens nicht mehr „sinnvoll“ erscheint.

Wichtig ist es eine Überversorgung zu erkennen und zu vermeiden. Es obliegt den behandelnden Ärzt*innen die Verantwortung, bedarfsgerechte und ressourcenbewusste Entscheidungen aufgrund einer fachlich begründeten und individuell abgestimmten Indikationsstellung zu treffen. Um eine Überversorgung zu erkennen und damit auch zu vermeiden ist die Arzt-Patient*innen-Interaktion der zentrale Ansatzpunkt.

Von Michalsen et al. wurde ein einfacher „TRIKK“ vorgeschlagen, um Übertherapie frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

  • T = Therapieziel: Das Therapieziel formulieren.
  • R = Re-evaluierung: Es ist erforderlich das Therapieziel regelmäßig und kritisch zu reevaluieren.
  • I = Indikation: Sicherstellen, dass für jede laufende oder geplante Therapiemaßnahme eine Indikation besteht. Die Indikation sollte geeignet sein, um das Therapieziel zu erreichen.
  • K = Konsequenz: Jede geplante medizinische und diagnostische Maßnahme muss auch eine Konsequenz haben, die Patient*innen und dem Behandlungsteam dem Therapieziel näherbringt.
  • K = Konsens: Sicherstellen, dass weiterhin mutmaßlicher, vorausgefügter oder definitiver Konsens der Patient*innen für alle laufenden und geplanten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen besteht

Fazit
Eine Überversorgung ist eine ernsthafte Herausforderung im Gesundheitswesen. Durch bewusste, evidenzbasierte Behandlung, offene Kommunikation und eine kritische Reflexion der Interventionen können unnötige Maßnahmen/Eingriffe reduziert werden. Ziel sollte immer sein, die bestmögliche Versorgung im Sinne und Übereinstimmung des Willens der Patient*innen zu gewährleisten, ohne diese zu überfordern oder unnötig zu belasten.

 

 

Zusatzinformationen

Interessenskonflikte: Keine
Autor*innen: Univ. Prof. Dr. Kurt Lenz, Linz
Redaktion: PD. Mag. Dr. Magdalena Hoffmann, MSc, MBA,RN, Dr. Marie-Madlen Jeitziner,RN
Datum: 22.08.2025
Version: 1.0
Copyright-Vermerk für Fotos: Kurt Lenz
Weiterführende Literatur:
-Michalsen et al.,Positionspapier DIVI. Med Klinik Intensivmed Notfallmed 2021; 116: 281-294
-H Albisser Schleger , H Pargger , S Reiter-Theil. Futility –Übertherapie am Lebensende? Gründe für ausbleibende Therapiebegrenzung in Geriatrie und Intensivmedizin Zeitschrift für Palliativmedizin 2008; 9 - EV_031 DOI: 10.1055/s-0028-1088429
Scroll to top