Zwischen Leben und Wahnsinn – Mein Weg zurück

Patientengeschichte

Am Freitag, 19. November 2021, ging ich mit einem ruhigen, fast selbstverständlichen Gefühl ins Spital. Eine Reflux-OP stand an – die dritte in meinem Leben. Ich war 56, kannte die Abläufe, sah dem Eingriff gelassen entgegen. Meine Frau fuhr mich wie gewohnt, wir verabschiedeten uns kurz, ein stiller Blick, ein Wink. Doch in diesem Moment war da ein Gedanke, kaum greifbar, ein Gefühl irgendwo tief in mir: „Vielleicht war das gerade unser letzter Blick.“ Heute frage ich mich oft, ob ich es gespürt habe oder ob es mein Verstand war, der sich im Nachhinein eine Erklärung für alles zurechtlegt. Ich richtete mich im Spitalzimmer ein, bereit für ein paar Tage Erholung – nichts deutete auf das hin, was mich erwartete.

Als ich das nächste Mal erwachte, war es Samstagmorgen. Ich war verwirrt, benommen. Ich wollte meine Frau anrufen, doch ich konnte die Zahlen nicht mehr wählen. Zahlen, die mir mein Leben lang vertraut waren, lagen plötzlich außerhalb meiner Reichweite. Ich bat um Hilfe, sprach mit meiner Frau – so wurde es mir später erzählt – und sagte ihr, dass es mir gut gehe. Um 10:30 Uhr jedoch wurde ihr von der Station mitgeteilt, dass mein Zustand instabil sei, man denke über eine vorsorgliche Verlegung auf die Intensivstation nach. Um 15:30 Uhr war es so weit: Ich wurde verlegt. Septischer Schock, multiples Organversagen. Der Grund blieb zunächst unklar, es konnten keine umfassenden Untersuchungen gemacht werden – es ging nur noch ums Überleben.

Ab diesem Moment versank ich in ein tiefes Nichts – oder besser gesagt: in eine andere Welt. Neun Wochen Koma. Neun Wochen Delirium. Ich war nicht einfach bewusstlos. Ich war da – irgendwie. Ich spürte Berührungen, hörte Stimmen, nahm etwas wahr. Ich erinnere mich daran, wie mir die Haare gewaschen wurden, wie das Wasser in meinen Ohren rauschte. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem ich gefühlt am Bettrand saß, als man mir sagte, ich solle meine Zähne selbst putzen. Ich tat es – wohl zu kurz. Die Pflegerin lachte: „Da muss man schon länger.“ Ich erinnere mich auch daran, dass ich in einem dieser Momente einer Pflegerin in die Hand biss – vielleicht aus Angst, vielleicht aus Verwirrung. Ich wusste nicht mehr, wer Freund und wer Feind war. Aber ich wusste, dass ich Hilfe erhielt, dass sich Menschen um mich kümmerten, und dafür schickte ich ihnen Küsse mit der Hand – als Zeichen meines Dankes, meines tiefen, wortlosen Gefühls von „Ich spüre euch“.

Doch gleichzeitig war ich auch ganz woanders. Ich war entführt worden, gefoltert, gegen eine Million Euro freigelassen worden. Ich saß in einem Flugzeug mit 113 Menschen, ganz vorne, wie man es mir gesagt hatte. In der Luft explodierte das Flugzeug. Ich überlebte – mit einem Fallschirm im Rucksack. Ich landete irgendwo, in einer Gosse, allein, verloren. Ich fand meine Frau wieder. Und sie – so bizarr es klingt – hatte eine Erfindung gemacht, mit der sie meinem Freund die geforderte Million zurückzahlen konnte. Diese Geschichte war für mich so real wie alles andere. Ich habe sie nicht nur geträumt – ich habe sie gelebt. Sie hat sich in mein Innerstes eingebrannt.

Als ich endlich erwachte, richtig wach wurde, war meine Frau da. Ich sah sie an und sagte mit voller Überzeugung: „Der Kerl, den du geheiratet hast, kann gehen. Ich bin wieder da.“ Sie hatte keine Ahnung, was ich erlebt hatte. Kein Mensch wusste von meiner zweiten Welt, meiner Flucht, meinen Ängsten, meiner Rettung. Und doch war alles in mir so gegenwärtig. Der Weg zurück in die Realität war lang. Mein Körper war geschwächt, mein Geist zerrissen. Ich verbrachte noch vier Wochen auf der Station, dann sieben Wochen in der Reha. Ich musste wieder lernen zu gehen, zu stehen, zu atmen, zu vertrauen – in meinen Körper, in meine Wahrnehmung, in das, was wirklich ist.

Ein besonderer Halt waren mir dabei nicht nur die Menschen, sondern etwas, das ich nicht erwartet hatte: ein Tagebuch. Es war nicht von meiner Frau geschrieben, sondern von den Pflegenden. Tag für Tag hatten sie dokumentiert, was geschah – kleine Beobachtungen, Fortschritte, Rückschläge, Berührungen. Dieses Tagebuch wurde zu einem Schatz. Es half mir, meine verlorene Zeit zu überbrücken, gab mir das Gefühl, dass ich nicht einfach „weg“ war, sondern dass ich begleitet wurde, gesehen wurde, umsorgt wurde. Und da war natürlich meine Frau – jeden Tag bei mir. In einer Zeit, in der ich selbst nichts geben konnte, ist sie einfach nur da gewesen. Diese bedingungslose Nähe ist etwas, das mich bis heute tief berührt.

Heute bin ich wieder da. Noch nicht der, der ich vorher war – aber vielleicht ein bewussterer, dankbarerer Mensch. Ich schreibe diese Zeilen nicht nur für mich, sondern für all jene, die glauben, allein zu sein mit dem, was sie im Schatten des Deliriums erleben. Es ist schwer, sich daraus zu befreien, schwer, Worte für etwas zu finden, das keiner sieht. Aber ich will sagen: Es gibt einen Weg zurück. Und es lohnt sich, ihn zu gehen. Ich bin wieder da. Und du kannst das auch sein.

Zusatzinformationen

Interessenskonflikte: Keine
Autor*innen: Anton Löffel
Redaktion: Dr. Marie-Madlen Jeitziner, RN, PD. Mag. Dr. Magdalena Hoffmann, MSc, MBA
Datum: 27.05.2025
Version: 1.0
Copyright-Vermerk für Fotos: Barbara Löffel
Weiterführende Literatur:
Keine
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